Philipp Ruf, 37, lebt mit seiner Frau und seinen drei jungen Kindern auf einem Bauernhof in Sankt Peter, seinem Heimatdorf im Schwarzwald. Über der Eingangstür des Hofs hängt das Wappen der Familie mit dem Aufbaudatum 1740 – ein Hinweis auf die vielen Generationen zuvor. Doch Philipp Ruf ist im Gegensatz zu seinen Eltern kein hauptberuflicher Landwirt, sondern arbeitet vier Tage pro Woche als Maler und Stuckateur. Daneben kümmert er sich um die Pflege seiner 45 Hektar Wald und die Produktion von Wertholz (hauptsächlich für die Herstellung von Möbeln), Brennholz und Hackschnitzeln.
Diese Lebensweise zwischen Lohn- und Waldarbeit hat Philipp Ruf auf Grund der Umstände angenommen. Sein Vater starb 2007, Philipp Ruf war damals 21 Jahre alt und übernahm den Familienhof. Zu dieser Zeit hielt er mit seiner Mutter noch Kühe und produzierte Milch.
Schnell wurde er mit einem Dilemma konfrontiert: Hätte er den Milchbetrieb weitererhalten wollen, hätten ihn die technischen Normen dazu gezwungen, den Hof für eine große Investition umzubauen, während die Milchpreise unsicher waren. Die Last einer solchen Wahl fasste Philipp Ruf während unseres Interviews so zusammen:
„Für Milch kriegst du 21 Cent und baust für eine halbe Million um, dann war noch das Gespräch mit der Milchquote, dass alles auf Weltmarktpreis angeglichen wird, also mit 14 Cent. Du bist 21 – hast du Lust auf die nächsten 30 Jahre diese halbe Million abzuzahlen und nicht zu wissen, wo die Reise hingeht?“[1]
Philipp Ruf beschloss, den Milchbetrieb aufzugeben. Er besuchte eine Winterschule, um sich für seinen jetzigen Hauptberuf auszubilden, trennte sich 2010 von seinen letzten Kühen, verpachtete sein Grünland und baute den Stall in Mietboxen um.
„Ich habe jetzt das Glück, dass ich keine Tiere mehr habe, ich bin ja raus.“[2]
In Philipp Rufs eigenem Weg von der Landwirtschaft zur Lohnarbeit spiegelt sich ein gesellschaftlicher Strukturwandel wieder: Durch den Druck des kapitalistischen Marktes wird Landwirtschaft intensiver und gleichzeitig werden die Landwirt:innen immer weniger. In Deutschland sinkt jedes Jahr die Anzahl an landwirtschaftlichen Betrieben (12% zwischen 2010 und 2021 laut dem Statistischen Bundesamt) während die durchschnittliche Größe der Betriebe zunimmt.3 Familienbetriebe, die in Westdeutschland bisher noch die Norm sind, werden nach und nach durch größere, wettbewerbsfähigere Personengesellschaften ersetzt.4
Diese Dynamik lässt sich allerdings nicht nur bloß anhand von Marktlogiken verstehen: Für Philipp Ruf gibt es weitere Faktoren, die den Beruf der Landwirt:innen wachsend unattraktiver machen und dazu führen, dass „viele gar keine große Lust mehr haben“5. Dazu gehöre die Auferlegung höherer ökologischer Standards (z.B. durch die 2020 verschärfte Düngeverordnung6 – Philipp Ruf nennt u.a. die Sperrfrist für Gülle), die seiner Meinung nach viele zusätzliche zeitlichen Auflagen in einem bereits sehr vollen Arbeitsalltag mit sich bringen.
Nun ist Philipp Ruf kein Züchter mehr und meint, dass er das nicht bereue: „Ich habe jetzt das Glück, dass ich keine Tiere mehr habe, ich bin ja raus“7. Doch er zeigt sich solidarisch mit denjenigen, die trotz des strukturellen Drucks noch ‚drin‘ sind: „Das ist das eigene Geld, das ist ja das eigene Land, der eigene Hof, die eigenen Tiere.“8
Den Wald pflegen – Familienerbe als Antwort auf Modernisierung?
Im Kontext des Strukturwandels der Landwirtschaft hat Philipp Ruf zum Teil mit dem bäuerlichen Lebensstil seiner Familie gebrochen. Eins bleibt aber noch davon: der Wald.
Meine Kommiliton:innen und mich wunderte es, wie viel Mühe Philipp Ruf sich gibt, seinen Wald zu pflegen: Im Rahmen unseres Photovoice-Projekts dokumentierte er diesen Aspekt seines Alltags mit vielen Bildern. Auf dem hier abgebildeten Foto sieht man einen seiner ‚Selbstversuche‘: Ein ausgeholztes Waldstück, auf welchem er neue Aufwüchse von selbst kommen lässt zum Zweck der Naturverjüngung – im Schatten von eng nebeneinanderstehenden Bäumen können nämlich neue Pflanzen und Bäumchen nicht so gut wachsen. Zum Zweck der Waldpflege beachtet Philipp Ruf auch den Abstand zwischen Bäumen, das Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Baumarten (Fichte, Tannen, Douglasien,…), die Rehe, die in Winter die kleinen Tannen fressen, die Schädlinge, u.a. die Borkenkäfer, die durch den Klimawandel sich immer schneller vermehren… Warum wohl so eine zusätzliche Last, die sich nach Phillip Rufs eigenen Angabe finanziell auch nur beschränkt rentiert? Mit drei Kindern und einer viertägigen Arbeitswoche in seinem Hauptberuf?
Ich möchte eine Hypothese riskieren: Die Sorgfalt, mit der er diese Aufgaben nebenberuflich leistet, hat nicht nur mit seiner Begeisterung für die Waldarbeit zu tun. Für Phillip ist der Wald auch ein Stück Erbe, das von der Geschichte seiner Familie geprägt ist, sowie eine Überlieferung ihrer vergangenen bäuerlichen Lebensweise. Durch Waldpflege kräftigt Philipp Ruf seine eigenen Wurzeln: Dabei erschafft er Kontinuität und Stabilität in seinem Alltag, der von Technisierung, Landwirtschafts- und mittlerweile auch Klimawandel transformiert wurde. Diese Interpretation basiert auf der Arbeit des Kulturanthropologen Hermann Bausinger, für welchen Tradition ein „Produkt der Modernisierung“9 ist; die Pflege von historischen Überlieferungen in der Gegenwart seien oft eine Reaktion auf die gesellschaftliche „Dynamik der Veränderungen“10.
Familientradition bedeutet auch Tradieren von Wissen und Können: Philipp Ruf lernte Waldarbeit als Jugendlicher an der Seite seines Vaters, wobei er sich später auch vieles selbst beibrachte. So scheint es kohärent, dass er als Vater den Wald sowie sein jetziges Wissen darüber wiederum an seine Nachkommen weitervermitteln möchte:
„Ich will ja... Wald ist ja generationenübergreifend, also ich will, dass meine Kinder oder meine Enkel ja was davon haben.“[11]
Doch auch Maschinen, technisches und forstwissenschaftliches Wissen und Innovation (u.a. durch seine Selbstversuche in der Waldpflege) gehören zu Philipp Rufs Arbeitsalltag, ebenso wie Aspekte der Bioökonomie: Er verwertet z.B. Holzabfall zu Hackschnitzeln und produziert dadurch einen recycelten biologischen Brennstoff. Philipp Rufs Arbeit im Wald mag mit Familientradition zu tun haben, sie ist aber definitiv in der modernen Gegenwart verankert.
1 Interview mit Philipp Ruf vom 05.11.2022.
2 Interview mit Philipp Ruf vom 05.11.2022.
3 Vgl. Statistisches Bundesamt: Strukturwandel in der Landwirtschaft hält an [Pressemitteilung vom 21.01.2021]. Online verfügbar unter: https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2021/01/PD21_028_412.html (Stand 12.04.2023).
4 Vgl. Statistisches Bundesamt: Agrarstrukturerhebung 2016: 9000 landwirtschaftliche Betriebe weniger als im Jahr 2013 [Pressemitteilung vom 20.01.2017]. Online verfügbar unter: https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2017/01/PD17_026_411.html (Stand 12.04.2023).
5 Interview mit Philipp Ruf vom 05.11.2022.
6 Für einen Überblick der Ziele, des Kontexts und des konkreten Inhalts der Düngeverordnung von 2020, siehe die Broschüre der Bundesanhalt für Landwirtschaft und Ernährung: https://www.ble-medienservice.de/frontend/esddownload/index/id/1515/on/1756_DL/act/dl (Stand 12.04.2023).
7 Interview mit Philipp Ruf vom 05.11.2022.
8 Interview mit Philipp Ruf vom 05.11.2022.
9 Bausinger, Hermann: Tradition und Modernisierung. In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 87 (1991), S. 5–14, hier: S. 7.
10 Ebenda.
11 Interview mit Philipp Ruf vom 05.11.2022.