Was passiert eigentlich in einem Milchbetrieb mit den Bullenkälbern? – Milch ist ein Produkt, welches in unserer Gesellschaft täglich konsumiert wird. Sei es in weiterverarbeiteter Form als Käse, Eis, Joghurt oder doch einfach nur als Milch im Müsli und Kaffee. Es ist aber auch ein Produkt, das logischerweise nur von einer weiblichen Kuh produziert werden kann – und auch nur, wenn diese ein Kälbchen geboren hat. Wenn dieses Kälbchen weiblich ist, kann es auf dem Hof aufgezogen werden und später ebenfalls zur Milchgewinnung verwendet werden. Ist das Kälbchen nun aber männlich, kostet es den Hof vor allem Geld, da man männliche Kühe ‚nur‘ zur Fleischgewinnung nutzen kann. Oftmals werden männliche Kühe bis nach Spanien ‚versendet‘, wo sie dann gemästet und geschlachtet werden. Der von uns besuchte Baumert Hof geht hier einen anderen Weg.

Nachdem unsere Feldpartnerin Veronika Larranaga-Schneider von uns eine Kamera bekommen hatte, verbunden mit der Bitte, ihren Arbeitsalltag zu fotografieren, trafen wir sie zum gemeinsamen Gespräch, mit den Fotos im Gepäck. Die folgenden Ausschnitte zeigen, wie sich unser Gesprächsverlauf entwickelte, welche Anreize die Fotos setzten und welchen Erkenntniswert die dahinterstehende Methode Photovoice für uns Kulturanthropolog:innen hat. Wir steigen nun in die Gesprächssituation ein und finden uns bei der Thematik der Bullenkälber wieder. Ausgangspunkt ist ein Foto, das den Moment kurz nach der Geburt eines Kälbchens zeigt.

Veronika Larranaga-Schneider: "Große Diskussion ist immer: Was passiert mit schwarzbunten Bullenkälbern? Das ist bei uns auf dem Hof ein bisschen anders gelöst wie auf vielen anderen. Der Großteil der schwarzbunten Bullenkälber bleibt bei uns in der Region, das heißt unser Nachbar, direkt über die Straße drüber, der hat ’nen großen Bullenmaststall. Er mästet die Kälber und vermarktet diese über seinen Hofladen beziehungsweise über örtliche Metzger und alles, was der nicht gebrauchen kann, behalten wir hier selbst auf dem Hof und vermarkten es auch an unsere direkten Kunden beziehungsweise auch über regionale Metzger, das heißt unsere Kälber haben keine großen Transportwege."

Hannes: "Das heißt, für eure Kunden ist es schon auch wichtig, dass die quasi was kriegen, wofür sie bereit sind, einen höheren Preis zu zahlen?"

Veronika Larranaga-Schneider: "Genau!“[1]

Und hierbei ist es der Kundschaft auch oft nicht so wichtig, ob der Hof eine Biosiegel hat oder nicht. Viel wichtiger ist zu wissen, woher das Produkt kommt und zu wissen, dass die Tiere auf dem Baumerthof gut behandelt werden.

Ein Bio-Siegel wäre für die Familie Baumert auch gar nicht rentabel und nur extremst schwer umsetzbar. Vielmehr setzt Veronika Larranaga-Schneider auf die Devise:

„Wir arbeiten so nachhaltig und ökologisch wie möglich, aber wir haben kein Bio-Siegel. […] Wir versuchen so wenig Pflanzenschutz wie möglich und nur so viel wie nötig einzusetzen. Das ist oftmals einfacher, als zu sagen wir machen einen kompletten Pflanzenschutzverzicht. Da können wir dann Totalausfälle im Getreide und im Mais vorbeugen, die durch Schädlinge ausgelöst werden können.“[2]

Und sie ergänzt:

„Zuckerrüben sind das beste Beispiel, kann ich eigentlich biologisch fast nicht machen. Das Unkraut kriege ich noch über Hacken und Striegeln raus, also zum Teil, aber Zuckerrüben sind wahnsinnig Blattkrankheitsanfällig; auch durch Blattlaus und Erdfloh besteht ein hohes Risiko. Wenn ich hier nicht mit einem chemischen Pflanzenschutzmittel fahre, wie mit einem Insektizid beziehungsweise einem Fungizid, habe ich ja wahnsinnige Probleme und zum Teil auch Totalausfälle. Also wenn man sich die Bilder anguckt, man muss sich vorstellen, diese braunen Blätter, was man hier sieht, […] das ist alles ein Pilzbefall.“[3]

Die Fotos, die Veronika Larranaga-Schneider in ihrem Alltag gemacht hat, boten einen weiten Erzählrahmen für unser Gespräch, innerhalb dessen wir ihre alltäglichen Erfahrungen und Setzungen besprechen konnten. Von der von ihr fotografierten Kälbchengeburt kamen wir schnell zur generellen Ausrichtung des landwirtschaftlichen Betriebs und dem Abwägungsprozess der hinter der Entscheidung gegen ein Bio-Siegel steht, was schließlich den Blick auf andere Stoffe und Ressourcen wie die Zuckerrüben lenkte. Der Einsatz der Fotos initiierte die Gesprächsthemen und verbildlichte das Erzählte, das für uns in seiner Bedeutungsdimension somit noch auf einer visuellen Ebene greifbar wurde.

1 Interview mit Veronika Larranaga-Schneider vom 07.11.2022. 
2 Interview mit Veronika Larranaga-Schneider vom 07.11.2022.
3 Interview mit Veronika Larranaga-Schneider vom 07.11.2022. 

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Als Kulturanthropolog:innen forschen wir nah an unseren Feldpartner:innen – deren Praktiken und Deutungen sind der Ausgangspunkt für unsere spätere Analyse. In unserem Forschungsprojekt haben wir uns für den Einsatz der Methode „Photovoice“ entschieden. Sie kombiniert visuelles Material in Form von selbst aufgenommenen Fotografien mit Erzählungen aus Interviews und gibt damit den Alltagspraktiken und Deutungen aus dem Feld Raum.

„Bitte fotografieren Sie Ihren (persönlichen) Arbeitsalltag“ – was die Landwirt:innen als Reaktion auf diese Bitte schließlich ins Bild rückten, blieb ihnen überlassen. Die Bedeutung der Bilder erschloss sich uns allerdings erst im gemeinsamen Gespräch, als unsere Feldpartner:innen den Inhalt der Fotografien näher erläuterten und kontextualisierten. Die folgenden Essays verdeutlichen das Erkenntnispotential dieser Methode, geben Einblick in den Ablauf der Forschung und zeigen, wie Bild und Sprache analytisch zusammenfinden.

Baumert Hof

Der Baumert Hof ist einer von tausenden Höfen in Baden-Württemberg. Als Aussiedlerhof in den 1950er Jahren gegründet, hat sich die Art der Bewirtschaftung seitdem stark verändert. Noch heute gibt es Ackerbau und Nutztierhaltung auf dem Hof – doch die Methoden haben sich stark verändert. Wo früher noch händisches Melken notwendig war, übernimmt diese Aufgabe nun ein Melkroboter. Ein Teil der Milch wird noch vor Ort zu Speiseeis verarbeitet und dann verkauft. Auch die Ackerflächen dienen nicht mehr allein dem Anbau von Futtermitteln für Nutztiere, sondern auch der Produktion von Biomasse für die hofeigene Biogasanlage. Ein Großteil der genutzten Biomasse wird aber nicht extra dafür angebaut.

So fällt Gülle als Nebenprodukt der Milchviehhaltung an. Neben dem Ausbringen der Gülle als Dünger wird sie in der Biogasanlage energetisch genutzt.

Das Team um Veronika Larranaga-Schneider, Karl-Philipp Baumert und Raphael Baumert betreibt den Hof mit einer klaren Orientierung auf eine Landwirtschaft, die auch in Zukunft noch bestehen kann. Diese Ausrichtung zeigt sich nicht nur in den genutzten nachhaltigen Methoden, sondern auch etwa durch den Versuch den Kund:innen, Abläufe transparent und nachvollziehbar darzustellen. Sei es durch die installierten Infotafeln vor dem Hof oder die Einladung den Hof zu besuchen.