Header_Essays-Elli1

Sustainability ist seit einigen Jahren in aller Munde. Ob als Lifestyle-Entscheidung in Hashtagform, die sich positiv bei Instagram auf die Reichweite auswirkt, als ethische Grundlage, um ressourcensparend das eigene Leben zu gestalten und somit den zukünftigen Erhalt von Planet und Lebewesen mitzuermöglichen; oder im schlechtesten Falle als Marketingstrategie im Sinne des Greenwashings. In der kulturwissenschaftlichen Auseinandersetzung im Rahmen des Seminars Bioökonomie ins Bild rücken sprachen wir mit verschiedenen Landwirt:innen über diese Thematik. Einer dieser Landwirte war Philipp Ruf (34) aus St. Peter, dem 45 Hektar Wald zur Verfügung stehen, die er bewirtschaftet. Der Grund ist seit 1711 im Besitz seiner Familie und obwohl Philipp Ruf hauptberuflich als Maler und Stuckateur arbeitet, widmet er dem Stück Land viel Aufmerksamkeit. Wichtig zu erwähnen sei hier der Stellenwert, den die Forst- und Holzwirtschaft – nicht nur für Philipp Ruf, sondern auch für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft – hat: Denn neben der Landwirtschaft zählt diese zu den wichtigsten Produzenten nachwachsender Rohstoffe der Bioökonomie.

Holz und Holzreste sind potentiell wertvolle Energielieferanten. Dies ist auch bei Philipp Ruf in St. Peter zu beobachten ist, der beispielsweise mit seinen Holzhackschnitzeln das dortige Hotel beliefert und somit die Erneuerung des Heizsystems unterstützt hat. Die forstliche Landwirtschaft lässt sich schwer in klar trennbare ökologische, ökonomische und soziale Aspekte aufteilen; es ist vielmehr notwendig zu erkennen, dass sie in starker Beziehung zueinanderstehen und sich wechselseitig bedingen.1

(Sustain)ability

Spannend ist im englischen Kompositum sustainability die zweite Hälfte  des Wortes: ability. Ist dies im Sinne von Fähigkeit zu verstehen, also die Befähigung sustain, ergo nachhaltig zu agieren? Laut Duden bezeichnet der Begriff Befähigung zum einen die geistige, praktische Anlage, die zu etwas befähigt und zum anderen das Imstandesein, In-der-Lage-Sein, das Befähigtsein zu etwas.2 

Was sehen Sie auf dem Foto? Welche Funktion erfüllt wohl dieses orangene Plastikteil mit den vier länglichen Stielen? Warum umgreift es die Spitze einer noch jungen Tanne?

Die Auflösung

Eine Verbissschutzmanschette

Woher ich das weiß? Aus dem Interview mit Philipp Ruf, der sich das Wissen von einem Förster angeeignet hat, dadurch also die „geistige Anlage“ besitzt, um unserer Forschungsgruppe dies mit praktischem Anschauungsmaterial weiterzuvermitteln.

„Das ist Pflanzenschutz. Das ist eine kleine Weißtanne, die ist jetzt drei oder vier Jahre alt und dieses Kläppchen da oben [er zeigt auf das Foto], das ist der Terminaltrieb. Das fressen die Rehe. Im Sommer fressen die Rehe Gras und alles Mögliche und im Winter ist Gras und Laub und alles weg und nur noch das da guckt raus und das ist wie […] auf gut Deutsch eine Mischung aus Chips und Gummibärchen und Schokolade für die Rehe. Dann wickelt man das da rum. Ich hol kurz mal eins.“[3]

Definitorisch gibt es unterschiedliche Ansätze, was als Wissen verstanden wird: die klassische Erkenntnistheorie, also das Wissen als Abbildung der Wirklichkeit, dann die Bildung, was als Fakten und Methodenwissen zu verstehen ist, und das Alltagswissen, welches nie stabil ist, sondern durch neue Erfahrungen weiterentwickelt wird. Um es in den Worten der Naturwissenschafts- und Frauenforscherin Donna Haraway zu beschreiben, ist dieses Wissen zu einer spezifischen Zeit und einem spezifischen Ort situiert und wird somit auch stetig verändert und neu beurteilt.4 Situiertes Wissen als Konzept, auch wenn nie konkret so benannt, zeigt sich auch im Gespräch mit Philipp Ruf: Was sein Vater ihm in Bezug auf die zyklischen Arbeitsprozesse im Jahresverlauf an Wissen mitgab, hat heute beispielsweise wegen der steigenden Temperaturen im Frühjahr und dem damit erhöhten Schädlingsaufkommen keine Gültigkeit mehr. Veränderte Kontexte erfordern Praktiken der Anpassung, mit welchen Philipp Ruf auf klimatische Veränderungen mit neuen Baumarten, wie der robusteren Douglasie, und Abläufen reagiert. Aspekte, die vor einigen Jahren wichtige Aufgabenstellungen darstellten, werden heute durch neue technische Innovationen oder neue ökologische Bedingungen im Wald abgelöst; gesellschaftliche Ansprüche der Nachhaltigkeit bei Heiz- und Stromthemen verändern sich durch politische, ökologische und soziale Faktoren. Das Wissen, das Philipp Rufs Vater ihm damals noch bei den Waldbegehungen vermittelte, ist heute nicht mehr universal anwendbar. 

Die Belastung auf den Wald war zwar absehbar, aber nicht so drastisch zu erkennen, wie es heute der Fall ist und auch im gesellschaftlichen Diskurs zur Sprache kommt. Beispielsweise charakterisiert sich Philipp Rufs Wissen über die Bodenkunde, die er durch familiäre Tradition oder Lehrbücher generiert hat, als Verbesserungsmaßnahmen im Sinne des Klimaschutzes. Doch das einfache Befolgen von Traditionen und der Rückgriff auf lokale Erfahrungen sind heutzutage nicht mehr ausreichend. Im Umgang mit der gegenwärtigen Situation aktualisiert Philipp alte und erwirbt neue Wissensbestände, auch durch die Unterstützung von Expert:innen. So berichtet er von Recherchen im Bereich Bodenkunde und seinem abgeschlossenen Kettensägenschein. Darin zeigt sich auch, wie er seine Handlungsspielräume selbst definiert und kontinuierlich erweitert. Doch wendet er nicht nur sein früh erworbenes, fast inkorporiertes Wissen, das er von seinem Vater erlernte, oder die Inhalte, die er durch Lehrbücher erwarb, an, sondern setzt auch auf eigenes Können, darunter Praktiken der Neugestaltung seines Waldstückes: Die Artenvielfalt biete, das betont Philipp Ruf im Gespräch, die besten Bedingungen, um dem Boden die nötigen Nährstoffe zu sichern.

„Ich schau, dass Fichte, Tanne, Douglasie und Buche und dann noch Ahorn, dass das gemischt ist, weil im reinen Fichtenwald fehlt im Boden im Prinzip das Laub als Dünger, […] das Nitrat. Die reinen Böden im Nadelwald sind zu sauer.“[5]

Philipp Ruf wendet drei verschiedene Modelle an, um die Waldverjüngung durchzuführen. Bei der ersten Methode nimmt er in konkreten Zeiträumen systematisch eine gewisse Anzahl an Bäumen heraus. Er lässt die Sträucher, die sich anschließend ihren Weg bahnen, wild wachsen. So greift er an bewusst gewählten Stellen ins Ökosystem ein. Hierbei achtet er darauf, dass er nur einen Abschnitt seines Waldes so behandelt. Durch das einfallende Licht können die jüngeren Bäume, die vorher kein Sonnenlicht erhielten, wachsen und auch die heimischen Sträucher können sich vermehren. Bei der zweiten Methode nutzt er einen durch Frost verursachten Kahlschlag, bei dem er einen kleinen Bestand an Bäumen verloren hat, um aktiv eine neue Baumart, in seinem Fall Kirsche, nachzusetzen. Die maroden Baumreste wurden hierfür entfernt, um die neuen Setzlinge einzupflanzen. Die dritte Methode betrifft auch einen Kahlschlag, doch lässt er hier dem Waldwuchs freien Lauf und möchte nicht ins Ökosystem eingreifen, um zu beobachten, wie sich der Wald an der Stelle selbst entwickelt und sich möglicherweise selbst hilft. Dieses Erkenntniswissen, das er durch eigene Beobachtung und Versuchsabläufe erwirbt, hilft ihm, mögliche innovative Lösungen zu finden, die Nachhaltigkeit gewährleisten und zum weiteren Arterhalt beitragen können.

Nicht nur die ökologischen, auch die ökonomischen und juristischen Aspekte der forstwissenschaftlichen Landwirtschaft hat Philipp Ruf in Kursen, durch Recherchen und Austausch mit seinen Kolleg:innen erlernt. Denn meist ist die Aneignung von Wissen durch Aushandlungs- und Kommunikationsprozesse geprägt. Auch das Wissen über die konkreten Vorschriften und Bedingungen für mögliche Subventionierungen gilt es sich anzueignen: Um finanzielle Unterstützung zu erhalten, muss beispielsweise eine bestimmte Steigung mit einer bestimmten Baumart bepflanzt werden, die aber nur bezuschusst wird, wenn die Gesamtfläche groß genug ist. Diese zugegebenermaßen sehr kleinen und spezifischen Beispiele sollen aufzeigen, wie verschiedene Facetten aus unterschiedlichen Feldern angelernt werden müssen, die auf den ersten Blick nur noch wenig mit Trockenschäden, Borkenkäfer, Laub- oder Nadelbaum zusammenzuhängen scheinen.

Die Notwendigkeit Wissen nutzbar zu machen

Auffallend nach dem Interview mit Maler, Stuckateur und Waldbesitzer Philipp Ruf war die Interdisziplinarität, aus der sein Wissen zusammengestellt ist und wie er dieses erworben hat. Kenntnisse über forstwissenschaftliche Abläufe zu Nitratwerten, Harzbildung oder jahreszeitlichen Effekten auf den Bewuchs; dann das Verständnis von juristischen Verordnungen bezüglich Bezuschussungen und den damit einhergehenden Bedingungen, Schadstoffentwicklungen von Blockkraftwerken und Sonderregelungen bei Maschinennutzungsrechten oder auch die Kompetenzen im sicheren und produktiven Umgang mit landwirtschaftlichen Maschinen, um nur eine kleine Auswahl zu nennen. Diese Befähigungen setzt Philipp Ruf aus intrinsischer Motivation heraus um. Die Notwendigkeit, nachhaltig zu handeln, also bei der zyklischen Pflanzung auf Biodiversität, Bodenpflege, waldschonende Verfahren zu achten, ist für ihn schon allein dadurch gegeben, dass er seit Lebzeiten regelmäßig im Wald arbeitet und dadurch die Entwicklungen sieht und ihnen entgegenwirken möchte. Sustainability ist somit kein sozioökonomisches Novum für ihn, sondern schon immer ein unabdingbarer Bestandteil seiner Arbeit. Auch auf die Gefahr hin, abschließend etwas pathetisch zu klingen, dient der Wald hier als Mikrokosmos, in dem man die Probleme der Welt ungeschönt im hiesigen Bestand Tag für Tag beobachten kann.

1 Vgl. Hahn, Andreas; Knoke, Thomas: Angebot, Nachfrage und Nachhaltigkeit im Wald. In: LWF Wissen 72. 2013, S. 126 f. Online verfügbar unter: https://www.lwf.bayern.de/mam/cms04/wissenstransfer/dateien/w72_angebot_nachfrage_und_nachhaltigkeit_im_wald_bf_gesch.pdf  (Stand: 21.04.2023).
2 Vgl. Duden: Fähigkeit. Online verfügbar unter: https://www.duden.de/rechtschreibung/Faehigkeit (Stand 21.04.2023). 
3 Interview mit Philipp Ruf vom 05.11.2022.
4 Vgl. Haraway, Donna: Situated Knowledges. The Science Question in Feminism and the Privilege of Partial Perspective. In: Feminist Studies 14 (1988), H. 3, S. 575–599.
5 Interview mit Philipp Ruf vom 05.11.2022.

Nach oben scrollen

Wissen durchzieht stetig landwirtschaftliche Arbeit und Alltage: Es geht um das Wissen über Zusammenhänge im Betriebsablauf, über Wachstumszeiten der Pflanzen, klimatische Bedingungen oder auch um das Wissen über das weitere Potential von Rohstoffen und Abfallprodukten. Wissen kann über Generationen hinweg weitergegeben oder muss erst angeeignet werden – insbesondere, wenn Innovationen in den landwirtschaftlichen Alltag integriert werden.

Hof von Philipp Ruf

Philipp Ruf, 37, lebt mit seiner Frau und seinen drei jungen Kindern auf einem Bauernhof in Sankt Peter, seinem Heimatdorf im Schwarzwald. Über der Eingangstür des Hofs hängt das Wappen der Familie mit dem Aufbaudatum 1740 – ein Hinweis auf die vielen Generationen zuvor. Sein Vater hat ihn früh an die kommende Übernahme des Besitzes eingeführt, aber von der Milchindustrie hat Philipp sich Anfang der 2000er verabschiedet und nutzt den Stall nun als Stauraum für sein Auto und das Spielzeug seiner Kinder. 

Er ist im Gegensatz zu seinen Eltern kein hauptberuflicher Landwirt, sondern arbeitet vier Tage pro Woche als Maler und Stuckateur. Daneben kümmert er sich um die Pflege seiner 45 Hektar Wald und die Produktion von Wertholz (hauptsächlich für die Herstellung von Möbeln), Brennholz und Hackschnitzel.