Neun Puppen und ein Notizbuch
Über das alltägliche Sammeln an Museen

„Meine Mutter ist vor einigen Monaten verstorben. Sie hat Puppen gesammelt, haben Sie daran nicht Interesse?"

 Solche oder so ähnliche Anfragen erreichen das Badische Landesmuseum immer wieder, wenn sich Hinterbliebene um den Nachlass ihrer verstorbenen Verwandten und deren Besitz kümmern.

Es ist eine der im Museumsalltag typischen Gelegenheiten, bei denen Museen ihrem Auftrag zu Sammeln nachkommen können. Mithilfe eines Sammlungsprofils können Dinge für eine potentielle Übernahme geprüft oder abgelehnt werden. Das Sammlungsprofil beschreibt Geschichte, Aufbau und Inhalt einer Sammlung. So kann evaluiert werden, was ein Museum noch aufnehmen möchte und was nicht, wo seine inhaltlichen Lücken sind, wo Recherchebedarf besteht und welche Bereiche als abgeschlossen gelten. Sammlungsprofile sind ein zeitgebundenes und nie ganz abgeschlossenes Instrument des Museums. Gerade für kulturgeschichtlich ausgerichtete Sammlungen wie die des Badischen Landesmuseums ist eine Weiter- bzw. Heranführung der Sammlungen an die Gegenwart wichtig. Dies erfolgt neben partizipativen Sammlungsaktionen und gezielten Ankäufen auch über Schenkungen aus Privatbesitz.

Im Fall der Puppen entspann sich nach der Erstanfrage ein längerer Kontakt zwischen dem Museum und dem Sohn von Frau F., der verstorbenen Sammlerin. Der Austausch endete mit der Übernahme von neun Puppen sowie einem Notizbuch in die Sammlung des Badischen Landesmuseums. Weitere kamen in den Bestand der Kulturvermittlung oder wurden an ein anderes Museum mit anderem Sammelschwerpunkt weitervermittelt. Eine zeitweilige Übernahme der potentiellen Sammlungsobjekte sowie Gespräche mit dem Objektspender machten es möglich, vertiefte Kontextrecherchen zu den einzelnen Puppen anzustellen. Diese wurden dann wieder in Zusammenhang mit den bereits vorhandenen Objekten der Sammlung gesetzt. Die Museumsmitarbeiterinnen entschieden sich dann für eine Auswahl von neun Puppen und Figuren, an denen sich exemplarisch gesellschaftliche Vorstellungen von Kindheit und Erziehung des 20. Jahrhunderts, die Repräsentation des Fremden, Kleidermoden und Zeittypisches sowie eine Sammlerinnenbiografie nachvollziehen lassen.

Die einzelnen Objekte können hier durchstöbert werden:

Näheres zum Auswahlprozess und Hintergrund der Puppen sowie ihrer Sammlerin findet sich im folgenden Beitrag:

Kontakt:

Ortrun Vödisch
Wissenschaftliche Volontärin
Referat Volkskunde

Badisches Landesmuseum
Schloss Karlsruhe
Schlossbezirk 10, 76131 Karlsruhe
T +49 (0)721 926 6922
F +49 (0)721 926 6537
ortrun.voedisch@landesmuseum.de
www.landesmuseum.de

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Gliederpuppe

Die 50 cm große Gliederpuppe besteht aus einem Werkverbundstoff aus Holz und Pappmache und ist äußerst beweglich: Sie verfügt über Gelenke an Knie, Hand, Schultern, Hüfte und Ellenbogen. Auf dem Kopf aus Biskuitporzellan trägt sie eine braune Echthaarperücke, die zu zwei hochgesteckten Zöpfen geflochten ist. Unter ihren Haaren am Hinterkopf verrät eine Markung den Hersteller: Die thüringische Porzellanfirma Simon & Halbig, die bis 1920 einer der größten Produzenten von Puppenköpfen weltweit war. Die Puppe wurde an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert hergestellt, ihre Kleidung entspricht jedoch nicht dieser Zeit. Sie trägt ein rotes knielanges Trägerkleid über Unterhosen und einem Unterrock sowie einem gepunkteten Hemdchen. Ihre Kleiderwahl ist nach der kindgemäßeren Mode gestaltet, die nach dem Ersten Weltkrieg aufkommt. Mädchen trugen nun kürzere Röcke, Beine konnten frei sein und erlaubten mehr Beweglichkeit und Funktionalität. In der Kleidung der Puppe zeigen sich wandelnde Vorstellungen von Kindermode und Kindheit im 20. Jahrhundert. Ihre hochwertige Ausführung machte die Puppe sicherlich zu einem besonderen Spielzeug für ihre Besitzer*innen. Später wurde sie geschätztes Sammlungsstück und Teil der privaten Spielzeug- und Puppenausstellung von Frau F.. Sie fungierte als nostalgischer Erinnerungsträger von Kindheit und Vergangenheit. Diese mehrfachen Bedeutungsschichten und ihre komplizierte Ausführung machen die Puppe für die kulturgeschichtliche Sammlung des Badischen Landesmuseums interessant. Sie füllt mit ihrer Kleidung aus der Zwischenkriegszeit gleichzeitig eine Lücke in der Spielzeugsammlung des Museums.

Inventar-Nummer: 2021/250

Höhe: 50 cm Breite: 20 cm Tiefe: 10 cm. Holz, Papiermache, Biskuitporzellan, Echthaar, Glas, Metall, Textilien: Baumwolle, Leinen

Käthe-Kruse-Puppenjunge in Matrosenanzug

Der Körper der kleinen Sammlerpuppe der Traditionsmarke „Käthe Kruse“ besteht aus einem Drahtgestell, ist mit Watte geformt und hellem hautfarbenem Trikotstoff überzogen. Kopf, Haar und Gesicht sind aus Biskuitporzellan modelliert und bemalt. Der Puppenjunge trägt einen Matrosenanzug mit roter Schleife, darunter ein weiß-rosa-gestreiftes Hemd, weiße Baumwollsocken und dunkelblaue Filzschuhe. Die Daumen sind abgesteppt, sonst sind keine einzelnen Finger modelliert.

Die Traditionsmarke „Käthe Kruse“ stellt heute noch handgefertigte Puppen in Deutschland und Finnland her. Das Puppenmodell „Der kleine Max“ soll nach einem Foto vom jüngsten Sohn der Unternehmensgründerin von 1923 gestaltet worden sein. Es entstand im Kontext des 100-jährigen Gründungsjubiläums der Firma 2005. Neben Firmengeschichte und privater Sammler*innenbegeisterung dokumentiert die Puppe im Souvenir- und Sammlerformat die Wirkungsgeschichte der typischen Jungenkleidung des Matrosenanzugs.

Inventar-Nummer: 2021/251

Höhe: 13,5 cm Breite: 4 cm Tiefe: 8 cm. Biskuitporzellan, Draht, Textil, Baumwolle, Trikotstoff, Filz, Pappe, Papier

Käthe-Kruse-Puppenjunge mit Latzhose

Der Stoffpuppenjunge hat einen weichen Körper, der mit hellem hautfarbenem Trikotstoff überzogen ist. Der Kunststoffkopf ist bemalt und mit einer Kunsthaarperücke besetzt. Am Handgelenk trägt die Puppe ein Etikett der Marke „Käthe Kruse“. Sie ist nach einem Modell von Hanne Adler-Kruse gestaltet, dem „Däumelinchen“. Die Tochter der Unternehmensgründerin kreierte es 1957, seitdem wird das Puppenmodell vertrieben. Der Puppenjunge trägt keine historisch angehauchte, sondern zeitgenössische Jungskleidung: ein kariertes Flanellhelmd und eine blaue Latzhose aus Cord-ähnlichem Baumwollstoff, die mit einem Dampfboot besetzt ist. Während es die meiste Zeit weitaus weniger Puppenjungs als Puppenmädchen und -babys gab, scheint die Spielzeugindustrie in den 1970er und 1980er Jahren Puppen bewusst für Jungen zu propagieren. Diesem Trend folgt auch die Traditions- und Sammlermarke „Käthe Kruse“. Die Puppe dokumentiert so u.a. Vorstellungen und Diskurse zu Erziehung, Männlichkeit und Kindermode in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Inventar-Nummer: 2021/252

Höhe: 26 cm Breite: 14,5 cm Tiefe: 10 cm. Kunststoff, Kunsthaar, Textil, Baumwolle, Flanell

Käthe-Kruse-Biegepuppe "Maria"

Die Maria-Figur mit ihrem biegsamen Körper besteht aus Draht, der mit einer Kordelschnur umstrickt ist und in standsicheren Holzfüßen sowie Händen in Kugelform ausläuft. Sie trägt ein rotes Kleid mit dunkelblauem Rock, am Hals ist es mit einer goldenen Borte besetzt; dazu einen langen weißen Schleier. Das Haar bilden braune Wollfäden. Der Kopf ist mit Schafwolle geformt, mit hellem hautfarbenem Trikotstoff überzogen und mit dem Gesicht bemalt.

Die didaktische Biegepuppe aus natürlichen Materialien „nach Waldorf-Art“ ist für eine Krippendarstellung oder das Spielen der Weihnachtsgeschichte geeignet. Sie ist von der Traditionsfirma „Käthe Kruse“ nicht als teure Sammlerpuppe hergestellt, sondern v. a. spielbar. Sie führt die Spielzeugsammlung des Museums weiter an die Gegenwart heran und ist Zeugnis für Pädagogikdiskurse.

Inventar-Nummer: 2021/253

Höhe: 15,5 cm, Breite: 6,5 cm, Tiefe: 3 cm. Holz, Draht, Wolle, Trikotstoff, Baumwolle, Bordüre

Babypuppe der Marke „Schildkröt“

Kopf und Hände der fast lebensgroßen Babypuppe bestehen aus dünnwandigem, mattem Kunststoff. Die Finger der Puppe sind einzeln geformt und mit einem Lutschdaumen für den geöffneten Mund versehen. Die hellbraunen Haare mit einem Seitenscheitel sind modelliert und bemalt; die Puppe hat eingelegte Schlafaugen. Der restliche Körper besteht aus Textil, ist ausgestopft und mit hellem hautfarbenem Leinenstoff überzogen. Die Puppe trägt über der weißen, knielangen Unterhose ein dünnes rot-weißes Sommerkleid mit Puffärmeln, Schmuckknöpfen und einer hochangesetzten Taille. Auf dem Kopf hat sie eine weiße Haube aus Mullstoff.

Im Nacken ist die Puppe mit der Schildkröt-Marke in einer Raute versehen, darunter ist eine“47″ geprägt. Beide verraten zum einen die Größe der Babypuppe, zum anderen den Mannheimer Hersteller, die Rheinischen Gummi- und Celluloidwerke. Diese waren mit dem Kunststoff Celluloid (einem Thermoplast aus Campher und Cellulosenitrat) und später Tortulon lange Marktführer in der internationalen Puppenproduktion. Ihrem Modell nach lässt sich die Puppe auf die 1930er Jahre datieren. Zeit und Regionalbezug machen die Babypuppe ein interessantes Stück für die Spielzeugsammlung des Badischen Landesmuseums.

Inventar-Nummer: 2021/254

Höhe: 47 cm Breite: 21 cm Tiefe: 11 cm. Kunststoff (Zelluloid oder Tortulon), Glas, Textil

Kleine Mädchenpuppe der Marke „Schildkröt“

Ein weitverbreitetes, günstigeres Spielzeug der Marke Schildkröt ist diese kleine Mädchenpuppe. Sie hat einen Kunststoffkörper (Zelluloid oder Tortulon), an dem Kopf und Torso zusammenhängen, Arme und Beine aber sind beweglich. Das kinnlange Haar mit Seitenscheitel ist modelliert und bemalt. Sie trägt einen weißen, knielangen Strampler und darüber eine rot-weißes Hängekleidchen. Im Nacken ist die Schildkröt-Marke mit Raute der Rheinischen Gummi- und Celluloidwerke Mannheim eingeprägt, sowie die Nummer „14 1/2“.

Die Puppe gehört vermutlich zum Modell „Inge“, das die Mannheimer Firma von 1934 bis in die 1950er Jahre in verschiedenen Größen mit unterschiedlicher Haarfarbe produzierte. Als weitverbreitetes Spielzeug der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, das auf dem Gebiet der Republik Baden hergestellt wurde, ergänzt sie die Sammlungen des Badischen Landesmuseums.

Inventar-Nummer: 2021/255

Höhe: 16 cm Breite: 10,5 cm Tiefe: 6 cm. Textil, Kunststoff: Zelluloid oder Tortulon

Geknüpfte Puppe in Makramee-Technik

Der Körper dieser Puppe ist in Kreuzknoten in der Makramee-Technik geflochten, als Füße und Hände sind Holzperlen eingebunden. Kleidung und Frisur der Puppe erinnern an die Mode junger Frauen der 1970er Jahre: Sie hat einen Ponyschnitt, die langen Wimpern betonen eher das Stereotyp-Feminine als etwas Kindliches. Sie trägt über einer karierten Stoffhose eine rote Tunika.

Die Puppe dokumentiert hierbei neben dem typischen Zeitgeschmack der 1970er Jahre auch eine Bastel- und Do-it-Yourself-Kultur in hochindustrialisierten Gesellschaften.

Inventar-Nummer: 2021/256

Höhe: 23 cm Breite: 19 cm Tiefe: 4 cm. Holz, Garn, Baumwolle, Tweed

Hirtenjunge als Holzpuppe

Die Holzpuppe hat bewegliche Gliedmaßen, die Füße sind in Schuhform gestaltet, sodass die Figur sicher stehen kann. In der linken Hand ist ein Loch für einen eventuellen Stab. Der Holzkopf ist bemalt, längere, schwarze Kunsthaare sind angeklebt, darüber trägt der Puppenjunge eine rote Filzkappe. Braune Stoffhosen, ein gemustertes Hemd mit Stehkragen und darüber eine grüne Weste sowie eine leinene Tasche geben ihm das Aussehen eines Hirten.

Aus dem Besucherbuch der Sammlerin Frau F. geht hervor, dass die Puppe aus der Schweiz stammt und so als Souvenir auf typische Schweizer Bilder Bezug nimmt. Von ihrer Machart ist die Puppe aber nicht als reine Sammler- oder Souvenirpuppe gedacht. In der Benutzung vor allem natürlicher Materialien folgt sie dem Gedanken des pädagogisch wertvollen Spielzeugs. Angefertigt wurde sie vermutlich zwischen 1970 und den 1990er Jahren.

Inventar-Nummer: 2021/257

Höhe: 19,5 cm Breite: 9 cm Tiefe: 3 cm. Holz, Textil: Filz, Leinen, Baumwolle

Käthe-Kruse-Stoffpuppe

Dunkles Stoffpuppenmädchen mit bemaltem Kopf aus Kunststoff. Der Stoffkörper bildet ein Drahtgestell, welches mit braunem Trikotstoff überzogen ist. Die Perücke ist aus schwarzem krausem Haar (möglicherweise Echthaar), das zu einem Zopf gebunden mit kleineren geflochtenen Zöpfchen ist. Darüber ist ein rotes Stoffband verknotet. Über der Unterwäsche und einer rot-blauen Bluse trägt sie ein Kleid in Batiktönen. Am Handgelenk der Puppe hat sie fünf verschiedenfarbige Perlenarmbänder, an anderen eine Holzmarke mit der Käthe-Kruse-Marke.

Die Puppe folgt vermutlich dem Modell „Däumelinchen“, das von der Tochter der Unternehmensgründerin, Hanne Adler-Kruse, 1957 entworfen und seitdem vertrieben wurde. Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden verschiedene Puppenmodelle auch in braunem oder schwarzem Kunststoff ausgeführt und als „Negerkind“ verkauft. Diese Puppe ist um eine authentischere, natürlichere Darstellung bemüht, nimmt aber eine exotisierende Ästhetik dabei wieder auf. Die Puppe ist somit materielles Zeugnis sich verändernder westlicher Vorstellungen von Afrika und Diversität, die noch immer stark von implizitem Rassismus und stereotypen Bildern geprägt sind.

Inventar-Nummer: 2021/258

Höhe: 25 cm Breite: 14 cm Tiefe: 9,5 cm. Kunststoff, Draht, Trikotstoff, Baumwolle, vermutlich Echthaar, Perlen, Metall, Holz

Besucherbuch

Das rot-schwarze Notizbuch legte Frau F. als „Besucherbuch“ ihrer, wie sie es nannte, „Mini-Ausstellung“ mit „Puppen, Spielzeug, Krimskrams“ vom 21. November bis 4. Dezember 1986 an. Der Bitte um Eintrag folgten über 70 Personen aus dem Freundes- und Bekanntenkreis. Neben Lob und Dank beziehen sich viele der Eintragenden auf wiedererweckte Kindheitserinnerungen, zwei versuchen sich sogar wieder in der früher erlernten Sütterlinschrift.

Darauf folgen Fotos mit arrangierten Puppen und Spielzeug, die zum Teil der Ausstellung entsprechen, aber auch später eingeklebt wurden, da Frau F. das Besucherbuch als Fotoalbum ihrer Puppen weiterführte. Sie sind zum Teil mit Namen und Herkunft der Puppen beschriftet.

Das Besucherbuch dokumentiert nicht nur die private Sammelleidenschaft von Frau F., sondern auch die sozialen Praktiken und Beziehungen, in denen diese betrieben wird. Sie ist daneben ein biografisches Zeugnis und liefert wichtige Kontextinformationen zu den einzelnen Puppen.

Inventar-Nummer: 2022/13

Höhe: 21 cm Breite: 16,5 cm Tiefe: 4cm. Papier, Pappe, Fotografien